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Wenn Erwachsene Lesen lernen

„Es ist nie zu spät“, schreibt Kerstin an die Tafel. „Mit einem ,t‘?“, fragt sie unsicher. Kerstin ist Legasthenikerin, hat erst mit 50 angefangen, in Kursen der Volkshochschule (VHS) an ihrer Lese- und Schreibschwäche zu arbeiten. Vor allem Behördenformulare brachten die zweifache Mutter zum Verzweifeln, Strickanleitungen stellten sie vor schier unlösbare Rätsel, selbst ihre Schreinerlehre musste sie abbrechen, weil sie den schriftlichen Teil der Ausbildung nicht verstand. Früher hätte man Kerstin eine (funktionale) Analphabetin genannt, doch der Begriff trifft es nicht, das Alphabet hat die Duisburgerin in der Schule gelernt.

Kerstin ist Legasthenikerin und Lernbotschafterin für die VHS Duisburg.

Viele Betroffene auch in Duisburg

Heute sprechen Fachleute deshalb lieber von gering literalisierten Menschen oder von Menschen mit Grundbildungsbedarfen, erklärt Eva Fastabend, VHS-Regionalleiterin Duisburg-West. Die LEO-Studie der Universität Hamburg aus dem Jahr 2018 geht davon aus, dass mehr als sechs Millionen Erwachsene in Deutschland solche Schwierigkeiten haben, allenfalls einfache Sätze lesen, schreiben und verstehen können. Allein in Duisburg sind es 40.000 Betroffene. Die Gründe dafür sind vielfältig: Kinder können durch längere Krankenhausaufenthalte oder eine nicht diagnostizierte Sehschwäche den Anschluss in der Schule verpassen, häufige Lehrerwechsel oder Umzüge wirken sich negativ auf den Lernerfolg aus, frühe Schwangerschaften führen zu Schulabbrüchen. Auch die coronabedingten Schulschließungen könnten erhebliche Nachwirkungen haben. Möglich ist aber auch ein nachträglicher Kompetenzverlust durch Krankheiten, wie zum Beispiel Schlaganfälle. „Mit Intelligenz hat das nichts zu tun, oft kommen einfach unglückliche Umstände in der Lernbiografie zusammen“, weiß Eva Fastabend, bei der VHS im Duisburger Westen zuständig für die Grundbildungskurse.

Dementsprechend heterogen sind auch die Gruppen, die im Lese- und Schreibkurs der VHS zusammenfinden. Rentner, Eltern oder auch Menschen mit Zuwanderungsgeschichte lernen hier in kleinen Klassen von vier bis sieben Teilnehmern – ohne Prüfungen, ohne Lerndruck, ohne Lehrplan, dafür mit großem Zusammenhalt und besonders bedarfsorientiert. Bis Betroffene den Mut finden, sich anzumelden, dauert es allerdings.

„Mit Intelligenz hat das nichts zu tun, oft kommen einfach unglückliche Umstände in der Lernbiografie zusammen.”

Eva Fastabend

Bei Kerstin wurde die Legasthenie viel zu spät festgestellt, das familiäre Umfeld unterstützte sie nicht, Prüfungsangst kam dazu: Schnell landete sie auf der Sonderschule. Als sie mit 18 oder 20 ihren Hauptschulabschluss nachholen wollte, machte sie das Arbeitsamt auf die Grundbildungskurse der VHS aufmerksam. Doch sie schaffte die Prüfungen auch so. „Mein Freund hat immer gesagt: Du stellst dich an wie der letzte Mensch, dabei bist du doch gar nicht so doof“, erzählt sie heute. Lange wollte sie ihre Probleme nicht wahrhaben. An den Moment, in dem sie ihre Lese- und Rechtschreibschwäche schließlich zugab, erinnert sie sich noch genau: „Mein Sohn wollte auf die Realschule gehen und ich hatte Schwierigkeiten, die Formulare auszufüllen. Ich konnte ihn nicht unterstützen, also habe ich die Schule um Hilfe gebeten – und bin dabei puterrot geworden.“

Als Regionalleiterin Duisburg-West kümmert sich Eva Fastabend um die Grundbildungskurse der VHS.

Selbsterkenntnis ist die erste Hürde

Die Betroffenen schämen sich. Kerstins Erfahrung nach trauen sie sich deshalb nicht, um Hilfe zu bitten. „Der Prozess der Selbsterkenntnis nimmt oft viele Jahre in Anspruch“, sagt auch Eva Fastabend. „Am Ende sind nur knapp ein Prozent derjenigen, die Schwierigkeiten haben bereit, in einen Kurs zu gehen – und das erst, wenn sich etwas in ihrem Leben verändert: Sie gehen in Rente, das Kind wird eingeschult, der Partner kann nicht mehr unterstützen.“ Bis es so weit ist, mogeln sich die Betroffenen mit Hilfe von Komplizen durchs Leben. Diese begleiten den Partner oder die Freundin zum Arzt, unterstützen bei Behördengängen, decken Ausreden von der vergessenen Brille oder der schmerzenden Hand.

Job-Anforderungen steigen

Kerstin hat als Reinigungskraft gearbeitet und sich erst mit Beginn ihrer Frührente vor sechs Jahren für den ersten Lese- und Schreibkurs bei der VHS angemeldet. Tatsächlich stehen sogar rund 60 Prozent der Menschen mit Grundbildungsbedarfen mitten im Berufsleben. Allerdings werde es mit fortschreitender Digitalisierung der Arbeitswelt immer schwieriger, die Fassade aufrechtzuerhalten, weiß Eva Fastabend. Denn auch in eher gering qualifizierten Beschäftigungsverhältnissen steigen die Ansprüche: Pflegetätigkeiten müssen brauchbar dokumentiert werden, Reinigungskräfte sollen Arbeitszeit und -ort digital erfassen.

Das VHS-Lernportal ist ein kostenloses und werbefreies Lernangebot für Grundbildung, verfügbar als App oder im Internet unter: vhs-lernportal.de

Für Hilfe ist es nie zu spät

„Deshalb ist es wichtig, den Leuten Mut zu machen und ihnen zu zeigen: Ihr seid nicht alleine und es ist nie zu spät“, da sind sich beide Frauen einig. Dafür braucht es Multiplikatoren, die sowohl die Betroffenen als auch die Komplizen über Hilfsangebote informieren – ohne die Erwartungen allzu hoch zu schrauben. Kerstin ist für die VHS Duisburg inzwischen als Botschafterin unterwegs. Bildungsberater machen Netzwerkarbeit, das Alpha-Netz NRW führt Sensibilisierungsschulungen durch und sogar die Bundesregierung will Grundbildungsangebote bis 2026 mit der „AlphaDekade“ stärker in die Öffentlichkeit rücken. „Aber die Annahme, wir stecken jemanden in einen Kurs und sechs Monate später kann er lesen, ist einfach falsch“, betont Fastabend. Tatsächlich ist der Lernprozess lang: Vom Erkennen der ersten Formen und Symbole bis zum selbstständigen Lesen eines kurzen Märchens vergehen bei den meisten Kindern etwa sechs Jahre.

Kerstin hat bis heute noch keine Lesekompetenz entwickelt, mit der sie sich wirklich wohlfühlt. Aber sie bleibt dran, liest Kurzgeschichten, auch mal „Harry Potter“ oder „Fifty Shades of Grey“ – auch wenn es anstrengend ist.

Informationen

Der Kurs „Lesen und Schreiben“ findet zweimal pro Woche an allen Duisburger VHS-Standorten statt und kostet 17 Euro pro Semester. Das neue Semester beginnt Ende Januar, der Kurseinstieg ist aber jederzeit möglich. Weitere Infos gibt es unter 0203 283-2616 oder per E-Mail an info[at]vhs-duisburg.de.


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