Der Vorleser
Heute schleicht „Der achtsame Tiger“ durch die Städtische Kita Templerstraße in Duissern. Er frisiert anderen Tieren die Haare, bettet die Kobra um, macht Obstsalat… „Moment, Obstsalat – mögt ihr Obstsalat? Und was ist noch mal eine Kobra?“ Wenn Michael Euteneuer vorliest, werden nicht nur die Bilderbuchfiguren lebendig, der 72-Jährige kommt auch mit den Kindern ins Gespräch: Er erklärt Fremdwörter, hebt die Moral eines Märchens hervor, hört den Kindern zu, nimmt sie ernst. Seit acht Jahren ist Michael Euteneuer einer von rund 100 Vorlesepaten, die in den Duisburger Kindertageseinrichtungen und Zweigstellen der Stadtbibliothek ehrenamtlich Freude am Lesen vermitteln.
Einmal in der Woche ist Michael Euteneuer in der Kita Templerstraße zu Besuch, einmal im Monat macht er mit den Kindern einen Ausflug zur Stadtbücherei Meiderich oder auch mal zur Zentralbibliothek, um gemeinsam neuen Lesestoff zu suchen und auszuleihen. „Kinder lernen freiwillig besser als unter Zwang“, davon ist der pensionierte Deutschlehrer überzeugt. Deshalb bringt er selbst nie Bücher mit. Bei ihm entscheiden allein die Kinder darüber, welche Geschichten es in die Vorlesestunde schaffen. „Auch wenn es dasselbe Buch zum 15. Mal ist“, sagt Euteneuer achselzuckend. „Schließlich gucken wir Erwachsenen uns ja auch keinen Film an, den wir nicht sehen wollen.“
Die Kinder entscheiden
Das zusätzliche Angebot ist fest in den Tagesablauf der Kita eingebunden, doch über ihre Teilnahme bestimmen die Kinder selbst. In kleinen Gruppen besuchen sie nacheinander die Vorlesestunde. Mal sind es nur zwei Zuhörerinnen, die es sich auf dem grauen Sofa im Personalraum neben ihrem Paten gemütlich machen, mal scharen sich fünf kleine Bücherwürmer auf dem Boden im Bewegungsraum um ihn. Alle sollen nah genug dran sein, um die Geschichte im Bilderbuch mitverfolgen zu können.
Michael Euteneuer setzt die Lesebrille auf, mimt mit leicht quietschender Stimme das Brot im Märchen Frau Holle, lässt den Apfelbaum heiser sprechen. Manche Kinder sind jedes Mal dabei, wenn der Duisburger zum Vorlesen kommt, andere haben nur manchmal Lust dazu. Mehrheitlich sind es Mädchen, die zuhören möchten. „Es gibt die Besserwisser, die alles kommentieren und mit großen Augen die Welt erklären, und es gibt die Träumer, die nur die Atmosphäre genießen und sich ankuscheln wollen“, sagt der Rentner. Dabei sind die Kinder erstaunlich diszipliniert: Toben, streiten, kichern – Fehlanzeige. Alle, von den Minis aus dem Bereich der unter Dreijährigen bis zu den Maxis im Vorschulalter, lauschen aufmerksam ihrer Geschichte.
"Schon jetzt merkt man am Wortschatz der Kinder, an der Art und Weise, wie sie sich artikulieren, ob ihnen vorgelesen wird."
Oft sind es die Kinder seiner ehemaligen Schüler, denen Michael Euteneuer jetzt vorliest. Seit 40 Jahren lebt er in demselben Stadtviertel, in dem er auch unterrichtete. Seine beiden eigenen Söhne haben schon die Kita in der Templerstraße besucht, nach seiner Pensionierung dann wollte er „etwas zurückgeben“. Die Liebe zur Literatur lag für den ehemaligen Deutschlehrer da nahe. „Lesen ist der Schlüssel zur Bildung“, davon ist Euteneuer überzeugt. „Schon jetzt merkt man am Wortschatz der Kinder, an der Art und Weise, wie sie sich artikulieren, ob ihnen vorgelesen wird.“ Das sieht auch die Stadt Duisburg so: Mit dem Projekt „Vorlesepatenschaften“ wollen die Stadtbibliothek, das Jugendamt und das Amt für Kommunikation vor allem einen Beitrag zur Sprachentwicklung der Kinder leisten. Die Bibliothek, wo in der Regel einmal im Monat eine offene Vorlesestunde für Kinder ab vier Jahren stattfindet, stellt regelmäßig „Vorleseboxen“ mit empfehlenswerten Kinderbüchern für Kitas und ihre Paten zusammen. Auch Bilderbuchkinos und andere Bücher können die Vorlesepaten kostenlos im Schulmedienzentrum der Zentralbibliothek oder in den Kinderbibliotheken der Zweigstelle ausleihen. Für alle neuen Ehrenamtlichen werden in speziellen Vorleseseminaren praxisorientierte Tipps und Hinweise zu Vorlesemethoden gegeben. Wer schon länger dabei ist, tauscht sich zweimal im Jahr beim Vorlesepatenstammtisch mit den Kollegen aus.
Lesen verbindet Generationen
Obwohl Geschlecht, Beruf und Alter bei der Patenschaft offiziell keine Rolle spielen, fördert das Projekt auch den Kontakt zwischen den Generationen: Oft sind es Rentner, die Spaß daran haben, den Kindern vorzulesen. Michael Euteneuer sieht das allerdings nicht so eng. Als seine Mutter in ein Seniorenheim in Ruhrort zog, ergriff der passionierte Bücherwurm auch hier die Initiative, las erst Kurzgeschichten und Lyrik vor, mittlerweile lauschen die Bewohner ganzen Romanen.
„Den Kindern macht das gemeinsame Lesen und Betrachten der Bücher einfach Spaß. Es ist herrlich, was für irrelevante Dinge ihnen dabei einfallen“, sagt der Vorleser schmunzelnd. „Die älteren Menschen musste ich erst knacken, denn mir geht es ja darum, ein Gespräch zu beginnen und die Leute nicht eindimensional zu beschallen.“ Und um wirklich alle mit ins literarische Boot zu holen, hat sich Michael Euteneuer noch etwas Neues einfallen lassen: Mit einem eigens konzipierten Literatur-Bingo will er jetzt auch die Eltern der Kita-Kids fürs Lesen begeistern.