Die Geigerin und der Rocker
Es läuft keine Musik. Die Musik hängt an der Wand, steht auf dem Boden und schwirrt mit wilden Gesten durch die Luft. Goldene Schallplatten von Carlos Santana oder Jimi Hendrix, knapp zwei Dutzend Gitarren und die Beatles im Miniaturformat auf der Fensterbank: Die Wohnung von Dagmar Albert Horn ist ein Schrein, der keinen Zweifel daran lässt, welche Götter hier angebetet werden. Wenn der Vollblutmusiker spricht, schwingt er imaginäre Schlagzeugstöcke, setzt mit der Luftgitarre zum Solo an. Dagmar Albert Horn, Altrocker, Rampensau und – dank seinem Duisburg-Lied – eine lokale Institution, lebt für, von und mit der Musik, seit er zusammen mit Willy Millowitsch bei einer Karnevalsveranstaltung „Schnaps, das war sein letztes Wort“ auf der Gitarre klimpern durfte. Da war er gerade sechs Jahre alt.
Mehr musikalische Tradition ist in Duisburg kaum irgendwo zu finden – außer bei den Duisburger Philharmonikern, die sich in über 140 Jahren ihr internationales Renommee erspielt haben. Hier spielt Luisa Höfs die erste Geige, genauer gesagt: eine davon. Wenn Dagmar Albert Horn mit seinen goldenen Turnschuhen und der Zirkusjacke über die Bühne eines Urlaubshotels irgendwo im Süden tobt und mit seinem Repertoire von Rock bis Schlager für Stimmung sorgt, sitzt Luisa Höfs im edlen Abendkleid kerzengerade vor den Noten von Giuseppe Verdis „La Traviata“. Dagmar Albert Horn ist 67 Jahre alt, Luisa Höfs gerade 27. Auf den ersten Blick könnten die beiden Musiker kaum unterschiedlicher sein.
„Die Show ist alles“
Der „Damen-Einspielraum“ im Theater Duisburg ist eine Mischung aus WG-Wohnzimmer und Sport-Umkleide. „Sei wild und unersättlich“ steht auf einer der bunt zusammengewürfelten Postkarten, die an den blauen Spinden hängen. Zwei alte Samtsofas sind an die Wand gerückt. Und auch Luisa Höfs sieht ein bisschen nach Studentin aus, wenn sie ihren lila Geigenkasten ganz lässig auf dem Rücken trägt. Tatsächlich ist das Instrument für sie so selbstverständlich wie ein Rucksack. Schon als sie drei Jahre alt war, wollte sie Geigerin werden, mit fünf fing sie an zu spielen. „Ich hatte Blut geleckt und irgendwann war klar, dass mich das nicht mehr loslässt“, sagt sie heute als zweitjüngstes Mitglied der Duisburger Philharmoniker – nach vielen Jahren Privatunterricht, Juniorstudium und einem Bachelor der Musikhochschule in Stuttgart.
Dagmar Albert Horn dagegen ist schon lange Rentner, zumindest was seinen Job als Werkstattprüfer angeht. Mit der Musik wird er nie aufhören. Ein neues Solo-Album ist schon in Planung und mit seiner Band Silvergreens, die er aus dem Seniorenheim rekrutiert hat, zeigt der Duisburger, dass Musik keine Frage des Alters ist.
„Ich war immer der Erste, der im Club sein Solo auf dem Tisch gespielt hat“, sagt der Mitgründer der 70er-Jahre-Kult-Rockband Alma Ata. „Die Show ist alles!“ Dagmar Albert Horn braucht die Bühne, egal wo, egal wie.
Er nutzte seinen USA-Urlaub, um ungefragt den Soundcheck für B.B. King zu machen – „der war total sauer“. Er schnappte sich in einem unbeobachteten Moment die Gibson von Rolling-Stones-Gitarrist Mick Taylor – und auch „der war total sauer“. Er ging aber auch mit Schlager-Star Wolfgang Petry für zwei Wochen auf Tournee, dessen Gitarrist nicht sauer, sondern krank war, und spielte mal schnell ein Solo für eine Privataufnahme bei Rod Stewart ein, den er über seine Londoner Freundin kennengelernt hatte.
„Das Adrenalin ist die Droge“
Auch Luisa Höfs kann sich nicht lange vom Rampenlicht fernhalten. Während ihre „Als ich damals gehört hatte, dass die Band Garbage nach Duisburg kommt, hab ich mir sofort eine Karte gekauft. Das war im Sommer 1999. Ich hab mich wochenlang auf das Konzert gefreut. Das Album ,Version 2.0’ war gerade erschienen, Songs wie ,I Think I’m Paranoid’, ,When I Grow Up’ und ,The Trick Is To Keep Breathing’ habe ich rauf und runter gehört. Am 25. Juli, es war ein Sonntag, spielte die Band dann im Landschaftspark Nord. Das Wetter war super, und ich hatte schnell ein paar Freunde getroffen. Als Vorband trat die Rap-Band Creme de la Creme auf, an die kann ich mich kaum noch erinnern. Dann kamen die Fantastischen Vier. Die waren damals schon schwer angesagt. Für mich und meine Freunde war das etwas befremdlich ... Was sollten wir mit den ganzen Hip-Hoppern da? Wir waren ja schließlich beinharte Indie-Fans. Als Garbage endlich spielten, war das wirklich überragend. Sängerin Shirley Manson war wunderschön: rote Haare, knappes Kleid und dazu ihre klobigen Ranger-Boots. 90 Minuten haben Garbage gerockt. Als mein Lieblingslied ,Queer’ kam, standen wir ganz nah vor der Bühne – und hatten einen Riesenspaß.“ Der Musikjournalist Georg Howahl ist 48 Jahre alt, arbeitet bei der der WAZ und besucht jedes Jahr zwischen 50 und 100 Konzerte. Altersgenossen auf Rock- oder Rap-Konzerten im Zuschauerraum jubeln, sitzt sie mit ihrem Streichquartett auf der Bühne. Ein Hobby – und ein Klischee, das keines ist. „Alle denken dabei gleich an vier alte Herren, aber wir sind vier junge Damen“, stellt die gebürtige Hamburgerin, die nebenbei in Hannover ihren Streichquartett-Master macht, klar.
„Das Adrenalin ist die Droge.“
Gerne spielt das Pierrot-Quartett moderne Stücke wie das des Berliner Komponisten Enno Poppe, bei dem das gemeinsame Umblättern der Noten zum Running-Gag wird. Doch mit den Stars und Sternchen, die den Pophimmel bevölkern, kann Luisa Höfs, die neben Klassik eigentlich nur Jazz hört, nicht viel anfangen. Für sie sind andere Namen respekteinflößend. In der Saison 2017, gleich ihrer ersten im Ruhrgebiet, durfte sie mit dem weltbekannten Duisburger Geigensolisten Frank Peter Zimmermann spielen – „den verehre ich sehr“. Einen „kribbligen Moment“ erlebt die 27-Jährige aber an jedem Konzertabend, wenn sie die knarzenden Treppenstufen zum Orchestergraben hinaufsteigt. „Das Adrenalin ist die Droge“, sagt sie. Und die gebürtige Hamburgerin ist süchtig. Ihre Eltern, eine Flötistin und ein Trompeter, haben Verständnis dafür. Auch sie kennen die Droge. „Auf der Bühne übertragen wir immer Emotionen, die die ganze Bandbreite der menschlichen Gefühlswelt abdecken. Musik sagt mehr als Worte“, erklärt die Tochter den Rausch, in den sie die Musik versetzt. „Wenn gelacht oder geweint wird im Publikum, dann haben wir gewonnen.“
Dagmar Albert Horn hat es da leicht. Sein größter Erfolg – seit er als Neunjähriger mit seinem Waschbrett und dem großen Bruder samt Gitarre durch die örtlichen Kneipen gezogen ist – bleibt das Duisburg-Lied von 1994, das nicht nur eine Liebeserklärung an seine Heimat, sondern auch an „seinen“ MSV ist. Und auf dem Fußballplatz spielen die Emotionen ja ohnehin verrückt.
„Ich kann das DuisburgLied auch als KlassikVersion singen.“
„In einer Woche habe ich damals 10.000 CDs verkauft – das haben noch nicht mal Pink Floyd geschafft“, erzählt der 67-Jährige stolz. Er stimmt kurz den Refrain an und bekommt prompt eine Gänsehaut.
„Auch klassische Konzerte können cool sein“
Sogar die Duisburger Philharmoniker haben die Lokal-Hymne beim „Day of Song“ schon einmal gespielt. Aber auch mit eigenen Veranstaltungsreihen probiert das Orchester gern Neues aus – nicht zuletzt, um neue Hörer zu gewinnen. Im Rahmen des Education-Programms „klasse.klassik“ werden zum Beispiel kleine Konzerte in Kitas und Schulen gespielt. Und unter dem Stichwort „Jung!“ entstehen Crossover-Formate mit Rock- und Pop-Musikern. „So erfahren die Leute, dass auch klassische Konzerte cool sein können“, erklärt Luisa Höfs. „Ich glaube, ganz viele Leute haben Scheu vor der Form: Was muss ich anziehen? Wann darf ich klatschen? Dabei geht es nur darum, das Event und die Emotionen zu genießen – das ist topaktuell.“