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Probesitzen im Hochfelder Korallenriff

Seeigel, Muscheln und Schwämme – in Handarbeit fertigt Ingrid Szperkowski für ihre Sitzsack-Manufaktur „Weichmöbel“ gemütliche Meeresbewohner zum Draufsetzen

Duisburgs wohl einziges Korallenriff versteckt sich in einem Hinterhof in Hochfeld. Gleich im Eingangsbereich leuchten die Würfelquallen in dunklem Blau und kräftigem Orange. Zwischen die kleinen Seeigel hat sich eine Zwergmuschel verirrt, die Seeohren türmen sich zwei Meter hoch an der Wand auf. Alle Meeresbewohner sind kuschelweich, zum Anfassen und Draufsetzen. Schließlich ist das Korallenriff, wie Ingrid Szperkowski ihren Laden liebevoll getauft hat, eigentlich eine Manufaktur für Sitzsäcke: Den wirbellosen Sitzmöbeln, die ganz ohne Holzverstrebungen oder Metallgestelle auskommen, gibt ihre Erfinderin – analog zu den wirbellosen Tieren – gern klangvolle Namen aus dem Ozean.

Nahtloser Übergang vom Wohn- ins Arbeitszimmer

Im Materiallager der Firma Weichmöbel lehnt ein gutes Dutzend Stoffballen an der Wand, die Schnittmuster aus Sperrholz stehen gleich neben dem Fünfziger-Jahre- Kleiderschrank. Ingrid Szperkowski, die lieber Tanja genannt werden möchte, ist Soloselbstständige, die Frau für alles. Sie fertigt die Möbel für ihr Geschäft und den Onlinehandel in Handarbeit, kümmert sich um die Webseite und das Marketing, macht nebenbei die Ablage, und wenn es sein muss, repariert sie auch ihre nostalgischen Nähmaschinen aus den Sechzigerjahren noch selbst. Das Wohnzimmer der 48-Jährigen geht nahtlos ins Arbeitszimmer über, Produktionsstätte und Ladenlokal sind gleich nebenan. Der Manufaktur merkt man das an. Nicht nur das Ladenlokal, wo kleine Fotos von Korallen an den Wänden hängen und Plüschdelfine von der Decke baumeln, ist mit vieLiebe zum Detail dekoriert. Auch in den Produkten steckt jede Menge Herzblut – das zeigen schon die kreativen Namen. Der weiche Mikrofaserstoff fühlt sich hochwertig an, das Label mit dem Firmennamen produziert eigens eine Duisburger Stickerei, für die Füllung der Sitzsäcke gibt es ein Extra-Inlet.

„Und wenn sonntags ein Auftrag reinkommt, dann geh ich ran.“

Ingrid Szperkowski

Vor allem öffentliche Einrichtungen wie Bibliotheken, Kitas und Schulen setzen gern auf die Langlebigkeit made in Duisburg statt auf billige Massenware aus Asien. Doch auch viele Privatkunden schätzen den persönlichen Kontakt ohne Warteschleife in der Hotline. „Und wenn sonntags ein Auftrag reinkommt, dann geh ich ran“, erzählt Ingrid Szperkowski, die von sich selbst sagt, dass sie jeden Tag das Bedürfnis habe, etwas zu bauen.

Ingrid Szperkowski mag es maritim: Ihre Sitzsack-Manufaktur in Hochfeld hat die Unternehmerin liebevoll als Korallenriff gestaltet.

Das erste Mal Sitzsack

Eigentlich ist die Vollbluthandwerkerin gelernte Schreinerin. Doch als sie 1994 auf der Art Cologne das erste Mal einen Sitzsack ausprobierte, war es um sie geschehen. Jetzt steht sie in ihrem Lager, taucht die Hände in einen Behälter mit EPSKugeln, lässt die kleinen, weichen Styroporbälle durch ihre Finger rieseln: „Das ist einfach ein unvergleichliches Gefühl, und das findet sich im Sitzen wieder: Die Kugeln verteilen sich in der Stoffhülle, umhüllen den Körper, passen sich perfekt an.“ Bis hierhin war es ein weiter Weg. Damals waren Sitzsäcke noch nahezu unbekannt. Und als Ingrid Szperkowski endlich einen Laden gefunden hatte, der das passende Füllmaterial verkaufte, probierte sie mit den Bettlaken ihrer Mutter herum. „Das war eine Riesensauerei“, sagt sie und lacht. Doch irgendwann beäugten immer mehr ihrer Freunde neidisch den selbstgenähten Sitzsack und die gemütliche Liege in ihrem Wohnzimmer, sodass die Duisburgerin 2005 tatsächlich den Schritt in die Selbstständigkeit wagte. „Mit mir gab es damals gerade einmal drei Hersteller von Sitzsäcken“, erzählt sie.

Ein Start ins Ungewisse

Ein Freund baute die Webseite für die kleine Manufaktur, produziert hat Ingrid Szperkowski da noch in ihrem Wohnzimmer. „Das Nähen habe ich mir selbst beigebracht. Dann bin ich mit 1.500 Euro Startkapital auf den Stoffmarkt in Eindhoven gefahren und habe dort mein ganzes Geld ausgegeben“, erinnert sich die Chefin an ihre Anfangszeit. „Beim Verteilen von Flyern habe ich mir die Füße blutig gelaufen. In einem Babyfachmarkt habe ich nach Kartonagen gefragt und meine ersten Seeohren in den übriggebliebenen Kartons von Kinderwagen verschickt.“ In diesem Jahr feiert Weichmöbel nun schon 15-jähriges Jubiläum und Ingrid Szperkowski muss lange suchen, um ihre alten Modelle im Maßstab 1:10 zu zeigen, mit denen sie anfangs noch jedes neue Möbelstück auf seine Sitzeigenschaften testete. Inzwischen ist die Konkurrenz größer geworden – und Ingrid Szperkowski routinierter, eine professionelle Unternehmerin.

Mehr Meer: Plüschdelfine als Hingucker.

Produziert wird im Sommer

Den Durchbruch brachte die Ausstattung eines Kinderkinos, das gemütlich und bunt werden sollte. Mittlerweile gehen in guten Monaten auch mal 300 bis 400 Möbelstücke über den sprichwörtlichen Ladentisch in Hochfeld. Oft hat die gebürtige Neusserin im Herbst und Winter so viel Kundenkontakt, dass sie kaum zum Produzieren kommt. Ihre Möbel fertigt sie deshalb meist in den ruhigeren Sommermonaten an – welche Auswirkungen die Corona-Pandemie auf die kleine Firma hat, wird Ingrid Szperkowski also erst am Ende des Winters erfahren.

Als Soloselbstständige ist Ingrid Szperkowski die Frau für alles: Sie kümmert sich nicht nur um das Marketing und den Onlinehandel, sie näht auch ihre Sitzsäcke selbst und befüllt die Inlets mit einer eigens dafür entworfenen Abfüllanlage.

Offen für Inspirationen

Ein Glücksgriff, dass das neueste Produkt der Tüftlerin perfekt in die Zeit passt: Die zweifarbigen Würfelquallen aus Kunstleder können mit Desinfektionsmittel gereinigt werden; ein praktischer Nebeneffekt vor allem in öffentlichen Einrichtungen, die die Sitzmöbel für Kinder im Einsatz haben. Überhaupt lässt sich Ingrid Szperkowski gerne von ihren Kunden zu neuen Kreationen inspirieren. Ihr Kopffüßer – benannt nach einer Weichtiergruppe, zu der auch Kalmare und Kraken gehören – ist ein Stillkissen, das mal in dunklem Rot, mal in gediegenen Beige- und Brauntönen daherkommt. „Mir haben einfach so viele Mütter gesagt, dass sie das Stillkissen mit aufs Sofa nehmen, aber die üblichen Bärchen-Aufdrucke da< nicht so gut hinpassen“, erklärt die Kreativchefin, die auch nicht davor zurückschreckt, ihre zwei Meter lange Seewalze rabiat zu kürzen, damit die Liege als neuer Gamer- Sessel besser in die weniger geräumigen Wohnzimmer ihrer Kunden passt. Vom klassischen Sitzsack, Ingrid Szperkowskis Schwamm, über das kleine Yoga- Kissen bis zum sesselartigen Elefanten- Seeohr mit bis zu 400 Litern Fassungsvermögen; vom dunklen Blau bis hin zu grellem Pink und trendigem Senfgelb – Form und Farbe sind fast keine Grenzen gesetzt. Auch Spezialanfertigungen mit Logos und Schriftzügen oder aus ausgefallenen Stoffen können bei der Manufaktur Weichmöbel bestellt werden.

Vom Riesensitzsack bis zum kleinen Würfel, von mattem Grün bis zum knalligen Orange – Form und Farbe ihrer Sitzmöbel setzt Ingrid Szperkowski fast keine Grenzen.

Skurile Anfragen

So hat Ingrid Szperkowski schon im Auftrag des Hessischen Landesamtes für Naturschutz sechs Sitzsäcke mit verschiedenem Durchmesser zur Veranschaulichung des Pro-Kopf-CO2-Ausstoßes für eine Ausstellung zum Klimawandel beigesteuert. Die skurrilste Anfrage allerdings kam von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, die für eine Sexualkunde-Schau Vulva und Penis in gleich mehreren Ausführungen ordern wollte. „Der Auftrag kam nicht zustande, weil die Vorlaufzeit zu gering war“, sagt Ingrid Szperkowski und lacht. „Aber grundsätzlich versuche ich, alles zu realisieren.“

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