Weinabende ohne Wissenschaft

Der Weinhandel kalt.weiss.trocken hat sich auch außerhalb Duisburgs einen Namen gemacht. Die Betreiber punkten mit einer besonderen Location – und verzichten auf Chichi.

Kurz vor dem großen Ansturm lehnen Marc Dickmann (46) und Christian Stempel (45) noch entspannt an einer langen Holztheke. Sie stoßen mit einem Glas Grauburgunder auf den Abend an. Aus den Boxen erklingt sanfte Elektromusik. Das Personal trägt Kisten in den Kühlraum, sortiert Flaschen und spült Gläser. „Jetzt haben wir an der Theke noch ausreichend Platz“, sagt Dickmann. „In einer Stunde wird der Andrang beim Ausschank groß sein.“

Es ist Donnerstag, kurz nach 18 Uhr. Der Duisburger Weinhandel kalt.weiss.trocken öffnet unter dem Motto „Thirsty Thursday“ seine Bar. Und an den durstigen Donnerstagen wird es in Duissern richtig voll. Wo einst die Firma Friemann und Wolf Batterien und Akkus herstellte, stimmen sich heute die Besucher auf das Wochenende ein. Sie kommen aus dem ganzen Stadtgebiet, um mit Freunden einen weißen Hinterbichler Sauvignon Blanc oder einen roten Reunis Cebazan Anciens Temps zu genießen. Aber nicht nur Duisburger sind heute zu Gast. Das Hinterhofgebäude mit Industrie- Charme ist auch in Moers, Mülheim und Düsseldorf bekannt.

Als sie loslegten, hatten Marc Dickmann und Christian Stempel keinen Masterplan. Die alten Schulfreunde vom Landfermann- Gymnasium trafen sich abends gerne zum Weintrinken. 2010 kamen sie dann auf die Idee, ein kleines Gewerbe aufzubauen. „Wir sind regelmäßig zu einem Winzer in die Pfalz gefahren und haben dort unseren Kofferraum mit Kisten vollgepackt“, erzählt Stempel. „Und die Flaschen haben wir in Duisburg aus einer Garage heraus an Freunde und Familienmitglieder verkauft.“

Die Nachfrage wuchs ständig. Bald war die Garage zu klein. Dickmann und Stempel mieteten deshalb eine alte Drahtzieherei im Stadtteil Neudorf – und die Geschichte des kalt.weiss.trocken begann. Der Standort regte die Fantasie der beiden Männer an. „Der Ort hatte so einen Charme, da mussten wir mehr draus machen“, erklärt Dickmann.

So beantragten die Geschäftsführer eine Schanklizenz und feierten 2015 die erste Party. Von den legendären Abenden schwärmen sie noch heute. „Gäste haben ihre Verlobung bekanntgegeben oder ihre Scheidung gefeiert“, verrät Stempel. „Die ganze Bandbreite des Lebens hat sich bei uns abgespielt.“

Ende 2018 herrschte dann Katerstimmung. Ein Anwohner hatte wegen Lärmbelästigung eine Klage eingereicht und bekam vor Gericht recht. Somit war es vorbei mit den Partys in Neudorf. Die beiden Macher begaben sich auf die Suche nach einem neuen Standort. „Wir haben in Duisburg jeden Stein umgedreht, sind aber nicht wirklich fündig geworden“, sagt Stempel. Corona erschwerte den Plan einer baldigen Wiedereröffnung.

Schließlich stießen sie auf das leerstehende Gebäude in Duissern. „Das hat zu unserem Konzept gepasst“, betont Dickmann. Der Geist der Industrie ist auf den 250 Quadratmetern noch allgegenwärtig. Stempel zeigt auf den Boden. Spuren deuten darauf hin, dass hier einst Gabelstapler unterwegs waren. „Der Eigentümer hat uns gefragt, ob er den Boden neu machen soll“, sagt Stempel. „Aber wir wollten ihn so haben, wie wir ihn vorgefunden hatten.“ Hunderter Flaschen in denRegalen dienen neben einem stillgelegten Schaltkasten als Blickfang.

Vor der Eröffnung stand trotzdem eine monatelange Renovierung an. Die beiden Chefs sind keine Handwerker. Marc Dickmann arbeitet bei einer Bank, Christian Stempel ist Diplom-Kaufmann. Aber die beiden machten vieles selbst, bauten die Theke, zogen Strippen und dekorierten den Raum mit Fahrrädern, Leuchtröhren und Diskokugeln. Am 11. November 2021 gab es dann die erste Party in Duissern – sehr zur Freude des Publikums.

Linda Grahl gehörte schon in Neudorf zu den Stammgästen. „Ich war richtig traurig, als der Laden damals schließen musste“, erzählt die 28-Jährige. „Umso mehr habe ich mich gefreut, als bei Instagram die Wiedereröffnung angekündigt wurde.“ Sie trifft sich mit ihren Freunden regelmäßig im kalt.weiss.trocken. Linda Grahl mag den Wein, die Musik, die Einrichtung mit den zu Stehtischen umfunktionierten Holzfässern. „So eine Mischung gibt es in Duisburg sonst gar nicht“, sagt sie.

Es ist mittlerweile 19.30 Uhr. Marc Dickmanns Erwartungen haben sich erfüllt – an der Theke herrscht nun Gedränge. Paul Rohde schlängelt sich vorbei an den Gästen und holt Wein-Nachschub. Der 26-Jährige ist mit seiner Kollegin Marie Kolodziej als Betriebsleiter im kalt. weiss.trocken tätig. Er hat eine Erklärung, warum der Laden so gut läuft. „Wir machen aus dem Weintrinken keine Wissenschaft“, sagt Rohde. „Hier muss sich niemand schämen, wenn er keine Ahnung hat.“

Auch die Chefs vermeiden großes Chichi. Sie sind keine Sommeliers, sondern laut Christian Stempel „reine Autodidakten“. Ihr Fokus liegt auf Weinen junger Winzer aus Deutschland. Wer aber Sorten aus Frankreich, Spanien oder Italien bevorzugt, findet ebenfalls die passende Flasche. Und auch für Nicht-Weintrinker ist die Auswahl groß: So stehen verschiedene Gins, Wodkas, Biere und alkoholfreie Getränke auf der Karte. Paul Rohde arbeitet dabei nicht nur am „Thirsty Thursday“ im kalt.weiss.trocken. Der Laden an der Meidericher Straße ist donnerstags bis sonntags geöffnet. „Bei unserem Angebot sollte für jeden etwas dabei sein“, sagt Marc Dickmann. „Wir können Partys feiern, aber auch für eine entspannte Atmosphäre sorgen.“ Das kalt.weiss.trocken veranstaltet auch Poetry-Slams, Livekonzerte oder Comedy- Abende. „Wir wollen das Kulturprogramm weiter ausbauen“, sagt Stempel. „Die Nachfrage ist vorhanden.“

Und auch das kulinarische Angebot hat er mit seinem Partner im Blick: So können sich die Gäste demnächst an einem Antipasti- Büffet bedienen. Im Hof stehen Foodtrucks, bei denen etwa Burger oder Käse- Makkaroni auf der Speisekarte stehen.Es ist 20.30 Uhr. DJ Pat Simmons steht mittlerweile am Plattenteller und sorgt für Stimmung. Er legt an verschiedenen Orten im Ruhrgebiet auf – das kalt.weiss.trocken hat es ihm aber besonders angetan. „Die Location und das Publikum sind spitze, da macht die Arbeit richtig Spaß“, betont der Gelsenkirchener.

Hinter der Theke herrscht jetzt Hochbetrieb. Das Personal wuselt, die Gäste müssen nicht lange für neue Getränke anstehen. „Wir haben ein tolles Team“, sagt Christian Stempel, der vier Festangestellte und 25 Minijobber beschäftigt.

Im Mai 2022 stießen die Mitarbeiter allerdings an ihre Grenzen. Das kalt.weiss. trocken veranstaltete eine Party – und der Andrang war riesengroß. Die Besucher feierten im Innenhof und brachten die Gastgeber ins Schwitzen. Eigentlich wollten die beiden Chefs an diesem Abend gemütlich ein Glas Wein mit Freunden trinken. „Doch daran war nicht zu denken“, sagt Marc Dickmann. „Christian und ich haben den ganzen Abend mit ausgeschenkt.“