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Ein Haus voller Lebenswerke

Wie viel Platz braucht ein Leben? Sie lehnen an der Wand, stapeln sich auf Schwerlastregalen, sind sorgsam verwahrt in den breiten Schubladen hölzerner A0-Schränke. Mehr als ein Dutzend Existenzen passt in eine kleine Zwei-Zimmer-Dachgeschosswohnung, zwei weitere Zimmer und einen Keller. Es sind die Nachlässe von Duisburger Künstlern, die in dem Haus am Dellplatz lagern und darauf warten, der Öffentlichkeit präsentiert zu werden.

Das Schaufenster im Erdgeschoss sieht wie ein Setzkasten aus: Bilder auf kleinen Staffeleien, ein paar Bücher, Skulpturen, Zeitungsausschnitte – in dieser Vielfalt die perfekte Visitenkarte für die Galerie DU/ART. Der Duisburger Künstler Gerhard Losemann hat die Ausstellungsräume 2013 gemeinsam mit seiner Frau Rita Ehrig eröffnet, aus Achtung gegenüber seinen verstorbenen Kollegen. „Es hat keinen Zweck, nur zu sammeln und zu bunkern“, sagt der 83-Jährige. „Mein wichtigstes Anliegen ist, dass die Werke im Bewusstsein der Kunstinteressierten bleiben.“

Kunst, wohin man blickt: Vom Schaufenster ...
... bis ins Dachgeschoss.

Eine Galerie als Gedächtnis

Losemann sieht sich selbst nicht als Sammler, er ist wohl eher so etwas wie das künstlerische Gedächtnis der Stadt. Als gelernter Technischer Zeichner wechselte er zur Kunst, malte in der Volkshochschule bei Wilhelm Wiacker, besuchte die Folkwangschule in Essen, studierte an der Kunstschule Düsseldorf-Niederkassel Grafik und Malerei bei Jo Strahn. Er wurde mehrmals in den Kulturbeirat der Stadt Duisburg gewählt, ist Mitgründer der Interessengemeinschaft Duisburger Künstler und seit 1977 Sprecher der Duisburger Sezession, einer Abspaltung vom Duisburger Künstlerbund.

Ein Lebenslauf, der 1987 die Stadt auf den Plan rief: Der lokale Künstler Dieter Pirdzun war einen frühen Unfalltod gestorben, man brauchte jemanden, der mit Sachverstand das Atelier ausräumte. „Seine Frau wollte alles auf den Müll werfen, aber ich habe gesagt, das geht nicht. Da hat er ein Leben lang dran gearbeitet“, erinnert sich Losemann. Also packte er an und schaffte die Kunstwerke in die Toilettenräume einer Sportanlage in Rheinhausen, die ihm die Stadt zu diesem Zweck überlassen hatte.

1992 dann starb Hans-Joachim Herberts, ein bedeutender Vertreter der nichtfigürlichen Kunst, doch für sein Konvolut war kein Platz mehr – und es kamen immer mehr Nachlässe von Duisburger Künstlern der Nachkriegszeit hinzu. Meist baten die Erben Losemann um Hilfe, einige Kollegen legten ihn testamentarisch als Nachlassverwalter fest. Also zog Losemann um, erst in einen Keller in Marxloh, dann ins Untergeschoss einer Schule in Kaßlerfeld. Dort zerstörte ein Wasserschaden – bei einem Einbruch war der Haupthahn gestohlen worden – einen Teil der Sammlung. Rund 2.500 Arbeiten, darunter umfangreiche Konvolute von etwa zehn Künstlern sowie Einzelstücke von vielen weiteren, konnte der engagierte Duisburger schließlich in das Haus am Dellplatz retten.

Gerhard Losemann und Rita Ehrig machen die Werke verstorbener Duisburger Künstler der Öffentlichkeit zugänglich.

„Mein wichtigstes Anliegen ist, dass die Werke im Bewusstsein der Kunstinteressierten bleiben.“

Gerhard Losemann

Das ist jetzt Archiv, Galerie und Atelier in einem. Aktuell zeigen die beiden Ausstellungsräume im Erdgeschoss Werke von Jürgen Meister, der Losemann einen Teil seiner Kunst zusammen mit Duisburger Stücken aus der eigenen Sammlung schon zu Lebzeiten überlassen hat. Andere Objekte warten noch auf ihren großen Moment: Im Treppenhaus sitzt eine lebensgroße Holzfigur von Gisela Schneider-Gehrke, vor der zum Lager umfunktionierten Wohnung im Dachgeschoss steht ein großformatiges Gemälde, für das höchstens noch im Bad Platz wäre. Schätzwert der Sammlung: circa 35.000 Euro. Ein genauer Wert lässt sich nicht ermitteln, denn „wir kennen nicht die Preise, für die die Künstler ihre Arbeiten verkauft haben“, so die Sammler.

Mindestens alle drei Monate durchforstet Gerhard Losemann das Lager, in dem immer noch viel sortiert und nummeriert werden muss, und konzipiert eine neue Ausstellung in der Galerie DU/ART. Dafür kombiniert er archivierte Objekte mit Werken noch aktiver Kollegen zu einer thematisch ausgerichteten Schau. „Für mich ist das genauso reizvoll wie ein Bild zu malen. Eine Ausstellung zu planen ist ein kreativer Prozess, ein Gestaltungsakt“, sagt der 83-Jährige. „Ich empfinde es als Bereicherung, den Künstler so zu zeigen, wie er sich gerne in seinem Hauptwerk gesehen hätte, ihm Gerechtigkeit zuteilwerden zu lassen.“

Sammeln aus Respekt

Zu dieser Gerechtigkeit gehört auch, dass Losemann und Ehrig unterschiedslos alles sammeln, was die lokalen Künstler zu Lebzeiten geschaffen haben und die Erben nicht haben wollen. Ein Urteil über die Arbeiten der Kollegen wollen sich die Galeristen nicht anmaßen – im Gegenteil: „Man sollte achten, dass Menschen ihre ganze Kraft in diese Dinge gesteckt haben und daran glaubten, dass ihr Werk Bestand hat.“

Um dieses langfristig zu sichern und das Lebenswerk der Künstler zusammenzuhalten, verkauft das Sammlerpaar nur in Ausnahmefällen einzelne Stücke, gründete 2019 mit dem Nachlass einer Kollegin in Höhe von 100.000 Euro sogar die gemeinnützige DU/ART-Stiftung. Deren Ziel ist es, das Künstlererbe der Allgemeinheit zugänglich zu machen. „Denn all die Sachen sind ja mal gemacht worden, um anderen Freude zu bereiten, um die Neugier zu wecken“, sagt Losemann.

Reiche Kreativszene

Und der muss es wissen. In einem ganzen Künstlerleben hat er selbst etwa 2.500 Werke geschaffen: Materialarbeiten, Ölgemälde, Radierungen, Siebdrucke, Computerdruckgrafiken, 2011 sogar das Mahnmal zur Katastrophe der Loveparade. Natürlich soll auch sein eigener Nachlass einmal an die Stiftung gehen. Aber vorher machen sich Gerhard Losemann und Rita Ehrig mal wieder auf die Suche nach einem neuen Lager. „Wir sind schon wieder vollgepackt“, sagt Ehrig und seufzt angesichts der reichen Duisburger Kreativszene. Eigentlich ein gutes Zeichen.

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