Von der Landkarte verschwunden
Hans-Joachim Meyer holt eine Landkarte aus seinem Auto. Er breitet sie auf der Motorhaube aus und streicht das vergilbte Papier glatt. „Hier befinden wir uns gerade“, sagt der 76-Jährige und deutet auf einen Punkt direkt am Rhein. Den Fluss sieht er von seinem Standpunkt aus. Der Weg zum Ufer ist auf dem Plan auch eingezeichnet. Meyer wandert mit seinem Finger auf der Landkarte nach Süden – hin zur Seemannstraße und zur Sonnenstraße. „Die findet man auf den heutigen Landkarten nicht mehr“, sagt Meyer. Hier im Duisburger Norden verschwand einst ein ganzes Dorf: Es hieß Alsum. Es gab Gaststätten, Metzgereien, Schulen, zwei Kirchen, eine Flussbadeanstalt und einen Fußballclub, der sogar Schalke 04 zum Pokalspiel empfi ng. Doch 1965 verließ der letzte Alsumer sein Haus.
Eine faszinierende Geschichte
Wer etwas über die Gründe erfahren möchte, muss sich mit Hans-Joachim Meyer unterhalten. Er wuchs in unmittelbarer Nachbarschaft zu Alsum auf – in Hamborn. Meyer arbeitete als Maschinenbautechniker bei Grillo. In seiner Freizeit widmete er sich der Vergangenheit. „Ich habe mich schon als Schüler für Geschichte interessiert“, sagt Meyer. „Das Hobby habe ich mir als Erwachsener bewahrt.“ Er las die Bücher des Duisburger Lokalhistorikers Franz Rommel, veröffentlichte selbst Bildbände und bastelte aus Archivmaterial einige Kurzfilme über seine Heimat. „Die Geschichte von Alsum hat mich dabei besonders fasziniert“, sagt Meyer. Der Ursprung des Dorfes, erklärt der Hobbyhistoriker, geht bis ins 5. Jahrhundert zurück, als sich Franken am Rhein ansiedelten.
Ein ruhiger Ort
Alsum blieb im Laufe der Jahrhunderte ein ruhiger Ort. Die Einwohner lebten vom Fischfang und von der Landwirtschaft. Dann begann gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Industrialisierung. Fortan verdienten die Leute ihr Geld mit Kohle, nicht länger mit Fisch und Rüben. Die Rauchschwaden des Stahl- und Walzwerks lagen Tag und Nacht über den Häusern. Das kleine Fischerdorf wuchs. 1900 lag die Einwohnerzahl bei gerade mal 739. Im Jahr 1933 erreichte Alsum seinen Spitzenwert. Damals lebten dort 3.360 Menschen.
Rettungspläne für Alsum
Der Zweite Weltkrieg leitete den Niedergang Alsums ein. Bomben zerstörten Häuser. Gleichzeitig traten durch die Kohleförderung bald Bergschäden auf. Alsum sackte dadurch fünf Meter ab. Berechnungen ergaben, dass der Ort im Wasser versinken würde. Im Duisburger Rathaus gab es Rettungspläne für Alsum. Aber das wäre teuer geworden. Allein für ein Großpumpwerk hätten die Duisburger Anfang der 1950er-Jahre vier Millionen D-Mark ausgeben müssen. Die Beseitigung der vorhandenen Schäden hätte die Summe noch weiter in die Höhe getrieben. So kamen die Politiker zu dem Entschluss, dass ein Abriss der 253 Häuser günstiger wäre. 1954 beschloss der Stadtrat das Ende von Alsum. „Proteste gab es kaum“, erzählt Meyer. „Die Bevölkerung hat das so hingenommen.“
Die Alsumer verabschiedeten sich von ihrem Dorf. Im September 1963 gab es den letzten Gottesdienst in der Sankt-Nikolaus-Kirche. Vier Monate später brachte eine Sprengladung das sakrale Gebäude zum Einsturz. Die Nikolausskulptur wollten die Alsumer retten – als Andenken an ihre Heimat. „Die ist aber verschwunden“, sagt Meyer. „Vermutlich fiel sie auch der Sprengung zum Opfer."
Dafür ist Alsum noch an anderen Stellen präsent. Das Dorf gab einer Halde ihren Namen. Der Alsumer Berg entstand durch die Ablagerung von Kriegstrümmern und Schutt. Heute zieht er Ausflügler an, die vom Gipfel aus auf den Rhein und eine Industriekulisse blicken wollen. Sie sehen vom Gipfel aus die Kokerei Schwelgern und das Stahlwerk Bruckhausen von Thyssen-Krupp. Der Großkonzern breitete sich auf dem Gebiet des alten Alsums aus. Östlich der Hauptstraße begegnen sich nun moderne Industrie und Relikte der Vergangenheit. Meyer läuft an einem Kühlturm vorbei und schaut auf das Kopfsteinpflaster. Alte Straßenbahnschienen sind dort eingebettet. Hier entlang fuhr einst die Linie 10, die von Alsum bis nach Oberhausen-Buschhausen führte. „Die Züge waren noch auf der Meterspur unterwegs“, erklärt Meyer. 1966 stellte die Linie 10 ihren Betrieb ein.
Verfolgungsjagden im Matenatunnel
In Sichtweite der Straßenbahnschienen befindet sich der denkmalgeschützte Matenatunnel. Durch diesen gelangten Autofahrer von Bruckhausen ins ehemalige Alsum. Tatort-Kommissar Horst Schimanski lieferte sich im Matenatunnel fürs Fernsehen einst wilde Verfolgungsjagden mit Verbrechern. Heute ist die Durchfahrt nicht mehr möglich. Bauarbeiter verfüllten das marode Bauwerk mit Sand und versiegelten die Portale. Ein rund 20 Meter langes Tunnelstück ist auf Bruckhausener Seite noch zugänglich. Leere Getränkedosen und zerknüllte Zigarettenschachteln prägen das Bild. „Es war mal geplant, ein paar Erinnerungsstücke dort auszustellen“, sagt Meyer. Er würde sich wünschen, wenn dort ein Ort für Geschichtsinteressierte entstünde, damit die Umgebung nicht in Vergessenheit gerät. Die Bilder und passenden Anekdoten könnte Meyer allesamt liefern.
„Proteste gab es kaum. Die Bevölkerung hat das so hingenommen.“
Unter dem Motto „Bücher und Filme mit Herz“ hat Hans-Joachim Meyer den Hamborner Verlag gegründet. Bislang sind 15 Bildbände erschienen – darunter eine zehnteilige Chronik. Das Filmdokument spannt den Bogen von 1925 bis 1965. Meyer zeigt die Arbeitswelt in diesem Zeitraum, aber auch den Alltag der Bürger und besondere Sportmomente. Infos: hamborner-verlag.de