So wohnt Duisburg
Den rostbraunen Kirchturm mit dem Wetterhahn an der Spitze hat Ruth Witaszak immer im Blick. Er sticht heraus aus dem Häusermeer und den Grünflächen, überragt die Bäume und die Schornsteine im Hintergrund. Für Ruth Witaszak ist der Turm Heimat. „Mein Mann hat immer gesagt: Wenn du deinen Kirchturm nicht siehst, dann fühlst du dich nicht zu Hause“, erzählt die 78-Jährige, die – mit Ausnahme der ersten Kinderjahre – ihr ganzes Leben in Hochheide verbracht hat. Mittlerweile liegt ihr nicht nur die katholische Liebfrauenkirche, sondern gleich die ganze Stadt zu Füßen.
Zweifel, die habe sie anfangs schon gehabt. Kriminalität, Müll, Graffiti: „Man hörte ja viel von den Hochhäusern.“ Aber die barrierefreie Zwei-Zimmer-Wohnung mit der großen Fensterfront – im Schlafzimmer sogar bodentief –, der Aufzug bis vor die Tür und das Betreuungsangebot der Caritas haben sie und ihren Mann überzeugt, 2011 den Umzug in den sogenannten Roten Riesen zu wagen. „Jetzt möchte ich hier nicht mehr weg“, sagt die Seniorin, die noch immer dreimal in der Woche um den nahegelegenen Uettelsheimer See joggt. „Ein Häuschen? Nein danke!“
Die blank polierte Standuhr und die alte Pendeluhr an der Wand zur halb offenen Küche ticken im Wechsel. Kein Autolärm, kein Baustellenkrach, keine Sirenen: Hier oben verlieren sich alle Geräusche im Wind. Wer auf dem roten Balkon des 68 Quadratmeter großen Apartments steht, könnte fast meinen, er habe einen Berg erklommen: Selbst auf halber Höhe eröffnet der 60-Meter-Wolkenkratzer, der sich gemeinsam mit den Weißen Riesen den Titel als höchstes Wohngebäude der Stadt teilt, ein fantastisches Panorama. Links reicht der Blick bis nach Krefeld, geradeaus ragt der Zechenturm von Schacht IV in die Höhe, rechts leuchtet die riesige Grubenlampe auf der Halde Rheinpreußen in die Nacht hinein. Sogar die Luft scheint ein kleines bisschen frischer als am Boden zu sein. Neun Stockwerke tiefer achtet ein Concierge darauf, wer das Haus betritt, und macht auch gleich besorgte Anrufe, wenn ein Bewohner seine Zeitung mal nicht abgeholt hat. Der Aufzug hält unterwegs ein paarmal an – Mittwoch- und Freitagmittag kommt man schneller durch, weil dann die Arztpraxen im Gebäude geschlossen sind. Gleich in der Ecke neben dem Empfang steht eine kleine Holzbank mit geblümter Gartenstuhlauflage, im Halbkreis darum klönen die Damen auf ihren Rollatoren. Im Flur hängen neben den Fotos von der Sportstunde „Bewegung im Sitzen“ auch Bildercollagen, die bunt geschminkte Kinder zeigen.
Der Rote Riese ist ein Mehrgenerationen-Haus im großen Stil: 20 Etagen, 144 Wohnungen, sechs Nationen. „Am Anfang habe ich mich schon gefreut, wenn sich Familien mit Migrationshintergrund und Senioren auf der Straße grüßten“, gesteht Gabriele Strüver, die seit 2009 als Quartiersmanagerin der Caritas vor Ort ist. Doch diese Scheu – auch zwischen Jung und Alt – sei längst passé. Inzwischen hängen Rentnerinnen für die Nachbarskinder Schokolade an die Türklinken. Und die beiden Mädchen aus dem zwanzigsten Stockwerk, die in der Roten Stube, dem Gemeinschaftsraum, immer freiwillig den Tisch decken, gehören zu den gemeinsamen Frühstücksrunden wie die Marmelade und der Kaffee.
Die Leerstände herausgerechnet hat Ruth Witaszak etwa 100 Nachbarn, wenn man die Klingelschilder an beiden Eingängen des Hochhauses zusammenrechnet. Fast die Hälfte – die Bewohner ihres Gebäudeteils – kennt sie persönlich. „Man hat so seinen Club hier“, erzählt die Duisburgerin. „Wir rennen uns nicht gegenseitig die Bude ein, aber wenn man nicht alleine sein will, ist man nicht alleine.“ Die Caritas organisiert als Kooperationspartner des Vermieters Turnstunden und gemeinsames Singen, man trifft sich regelmäßig zum Kaffeeklatsch in der Roten Stube. Und immer wieder gibt es Feste und Ausflüge.
Vor allem Senioren, aber auch einige Familien schätzen das Gefühl von Sicherheit und Gemeinschaft, das das Konzept vermittelt, weiß Gabriele Strüver. Die „Tante fürs Soziale“, wie sie sich selbst bezeichnet, ist bei allen großen und kleinen Problemen zur Stelle: Mal hilft sie der im Bad gestürzten Rentnerin wieder auf die Füße, mal vermittelt sie „Vorleseomas“ an den Kindergarten. Als Ruth Witaszaks Mann krank wurde und 2016 verstarb, „da war Frau Strüver immer da“. Das Rundum-sorglos-Paket gefällt – auch Ruth Witaszaks Kindern. Besonders ihr Sohn war anfangs dagegen, dass die Eltern in den Roten Riesen ziehen. „Jetzt sitzt er immer hier am Tisch, damit er raus-gucken kann. Und er sagt: Ich weiß, hier bist du gut aufgehoben“, erzählt die Mutter und schaut unwillkürlich nach draußen. Bäume wiegen sich im Wind, weiße Rauchfahnen kringeln sich über den Industrieanlagen am Horizont. Doch man möchte wetten, Ruth Witaszak sieht nur ihren Kirchturm an.